Page 58 - MKK Kulturpreisträger 25 Jahre Katalog
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1989 Michael Kraneis Erlensee 1944Europas ländliche Gebiete haben sich in den vergangenen Jahrzehn- ten rapide verändert und mit ihnen die Menschen, die aus ihnen kamen. Autobiografisch grundierte Dorf- geschichten sind in der deutschen Nachkriegsliteratur zwar nicht selten, aber sie sind längst anders zu schreiben. Mit seinem ersten Roman „Erde und Himmel“ hat sich 1988 der 44jährige Michael Kraneis dem Thema auf neue Weise genähert und darin großes Talent bewiesen. Er schildert darin das Leben inder Abgeschiedenheit Niederroden- bachs kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Er erzählt von den fest- gefahrenen Strukturen, von Men- schen, die alles Fremde argwöh- nisch ablehnen und aus der Enge der eigenen Existenz nur entrinnen auf Kosten der anderen, der Dorf- deppen und Sündenböcke, „die sie sich zwischen ihren Höfen halten.“ Astrid Ludwig analysiert in einem Zeitungsbericht: „Die dörfliche Ge- meinschaft bietet zwar dem Einzelnen Schutz, aber kein Erbarmen.“In einem Interview mit dem Hessischen Rundfunk erklärt Kraneis: „Die Dorfdeppen erfüllen eine wichtige soziale Funktion inner- halb des Dorfes, damit diejenigen, die sich für normal halten, sich weiterhin für normal halten können. Die, die sich dafür normal halten, das sind ja auch die Mächtigen, die vertretendas Gesetz, sie haben die Moral auf ihrer Seite, und sie geben den Ton an, und sie verteilen auch die Spiel- regeln und achten darauf, dass sieeingehalten werden. Und unterläuft ihnen ein Fehler, dann ist es ja auch schon ganz klar, dass dieser Fehler – so aus ihrer Sicht gesehen – nur damit zusammenhängt, dass irgendwo etwas anderes nicht funktioniert hat, und dann treten die Sündenböckein Funktion, und es ist heute noch genauso, das ist auch nicht nur im Dorf so, sondern wenn wir uns die Politik anschauen, dann passiert das tatsächlich tagtäglich immer wieder, und es sind keine Dorfgeschichten!“So könnte Kraneis’ Roman über- all spielen, Rodenbach wird nie namentlich erwähnt, doch wer von der Bulau liest oder von der Hohen Landesschule, die der Protagonist später in der Stadt besucht, dem fällt eine geographische Zuordnung leicht.Der Autor wird 1944 als Michael Möller in Rückingen geboren, lebt seit dem zweiten Lebensjahr in Niederrodenbach und besucht bis zur Untertertia das Gymnasiumin Hanau. Sein Vater, ein Kataster- beamter mit Nebenerwerbsland- wirtschaft, will ihn zu einer ge- sicherten Existenz als Beamter überreden, doch der Sohn wider- setzt sich und lernt Maurer. Danach studiert er Hochbautech- nik und Landschaftsarchitekturin Kassel und entscheidet sich 1980, als freier Schriftsteller zu leben. „Ich habe den roten Faden in meinem Leben immer wieder zer- rissen“, sagt Kraneis in einem Gespräch mit der Niedersächsi-schen Allgemeine und kommen- tiert seinen Werdegang mit dem Sponti-Spruch „Sie wollten unser Bestes, doch wir gaben es ihnen nicht!“Es entstehen die Bände „Licht- tücher“, „Spurrillen“ und „Im Gras der gemeinsamen Wüste“, die er in Kassel im Selbstverlag heraus- gibt. 1986 erhält er vom Deutschen Literaturfond ein Arbeitsstipendium für ein Jahr, in dieser Zeit schreibt er „Erde und Himmel“, das in dem renommierten Hamburger Verlag Hoffman und Campe 1988 erscheint und ihm begeisterte Rezensionen einbringt.Michael Kraneis lebt in Roden- bach.5825 JAHRE KULTURPREIS DES MAIN-KINZIG-KREISES