Alexandra Harder
"Ein seltsamer Aspekt charakterisiert die Geschichte der Berufskarriere dieser zierlichen alten Dame: Im Alter von 80 Jahren kam ihre erste Einzelausstellung zustande, obwohl sie ihr Leben lang in dem erlernten Beruf tätig war und damit ihren Lebensunterhalt bestritt.
Die darauf folgende Zeit hatte noch manche Überraschung im Hinblick auf ihre künstlerische Wandlungsfähigkeit bereit. War man über Jahrzehnte daran gewöhnt, in Alexandra Harders Arbeiten eine großzügige Dekorative in subtilen Farbnuancen zu erblicken, so änderten sich die Collagen zu immer kleineren, diffizileren Bildtafeln hin. Die Sagenwelt Griechenlands hatte eine Hinwendung zu den Heiligenlegenden des Christentums bewirkt. Ihre Motive sind nun kleinformatig und strahlen trotz der erzählenden Einzelheiten eine überzeugende Kraft, Intimität und naive Gläubigkeit aus, die manchen Ikonen in ihrer orthodoxen Spiritualität nahestehen. Es sind Kupferplatten, auf Holz aufgezogen, die ihrer Malerei als Untergrund dienen. Kupfer übermalt, überklebt — manchmal taucht es blank gerieben aus dem Untergrund hervor — gleichsam wie die Gedanken eines Erzählers im Sprechen Erfahrung ausformen. Aber selbst die Collage als Stilmittel hat in Alexandra Harders Gemälden neuerdings einen anderen unvergleichlichen Stellenwert bekommen: Diente sie in früheren Jahren der Verfremdung und Bereicherung eingeübter Seherfahrungen, so gewann sie später zunehmend den Charakter einer Übermalung. Nicht die Collage verfremdet das Bild, sondern sie gibt es frei, sie zeigt, was unter ihr verborgen ist. Das Sujet blitzt auf unter der "Geschichte" der Collage. Es mutet an wie eine Erkenntnis, die sich unter den Schicksalswegen bildet und an Klarheit gewinnt, während die äußere Haut zerreißt. Man ahnt, hier sei ein hohes Alter mit Lebensreife in Einklang."
Diese künstlerische Würdigung verfasste die Malerin Franziska Haslinger 1995: eine Hommage von einer Künstlerin an eine andere, eine hochachtungsvolle Liebeserklärung von einer Tochter an ihre Mutter!
Alexandra Harder wurde 1905 im russischen St. Petersburg als Tochter eines Druckereibesitzers geboren. Sie genoss eine gutbürgerliche Erziehung in einem kunstinteressierten Ambiente. Der Beginn des 1. Weltkrieges bereitete der heilen Welt ein jähes Ende: Weil die Familie ihre deutsche Staatsbürgerschaft nicht aufgeben wollte, wurde sie 1914 nach Sibirien verbannt. Nachdem der Vater im Austausch für einen russischen Kriegsgefangenen nach Deutschland transportiert worden war, schlug sich die Restfamilie acht Jahre lang unter den schwierigsten Umständen alleine in Sibirien durch, bis ihr 1922 die Flucht zum in Berlin lebenden Vater gelang.
Alexandra Harder nahm Privatunterricht und begann an der Hochschule der Bildenden Künste zu studieren, wo sie ihren Mann, Alexander Harder-Khasán (1977 der erste Kulturpreisträger des Main-Kinzig-Kreises) kennenlernte und 1927 heiratete. Als ihr Mann eine Berufung zum Art Instructor nach Kansas in den USA erhielt, aber die Stelle nicht antreten durfte, weil er einen russischen Geburtsort hatte, entschied sich das junge Paar 1929 den Umweg über Kanada zu nehmen. Sie überwanden behördliche und existentielle Hürden, arbeiteten als Landarbeiter, Dekorateure, Küchenhilfe, Erzieher und kamen über die Stationen Winnipeg, Vancouver, San Francisco 1932 nach New York. Hier jobbten sie als Börsenmakler und Gesellschafterin.
Beide malten weiter, konnten aber als Künstler nicht Fuß fassen, da die amerikanische Kunstszene und das kulturelle Leben Anfang der 1930er Jahre noch in einer desolaten Situation waren. Als sie vom deutschen Konsulat die Aufforderung erhielten "heim ins Reich" zu kommen, entschlossen sie sich 1935 nach achtjährigem Aufenthalt im Ausland und in Verkennung der politischen Lage zur Rückreise. Ihre Naivität wurde bitter bestraft: Sie mussten sich der Reichskulturkammer anschließen, um arbeiten zu können, aber ihr Mann wurde erst im zweiten Anlauf angenommen, bekam 1938 Ausstellungsverbot als sogenannter "entarteter Künstler" und wurde zwangsumgeschult. Für eine Ausreisegenehmigung war es zu spät, man saß in Nazi-Deutschland fest. Inzwischen war Tochter Franziska auf die Welt gekommen, Alexandra Harder arbeitete im Kunsthandel, stellte Bilderkollektionen zusammen und hielt den Kontakt zur immer unbedeutender und kleiner werdenden Kunstszene.
1939 wurde ihr Mann zum Militär eingezogen und in Russland eingesetzt. Die junge Mutter überlebte den Krieg in Berlin und später in Wernigerode. Durch die Hilfe eines befreundeten Architekten konnten sie 1949 in ein halbes Haus in Hanau ziehen. Hier gab es dann wieder erste Kontakte zu Kollegen und Ausstellungen.
Seit 1954 hat Alexandra Harder an jeder Ausstellung der Künstlervereinigung Simplicius mit eigenen Arbeiten teilgenommen. Ab den 1980er Jahren engagierte sie sich sozial für russische Künstlerkollegen, organisierte Unterkünfte, Arbeits- und Ausstellungsmöglichkeiten. 1985 starb ihr Mann, "wir waren ein gutes Team," sagte sie rückblickend und meinte damit auch die ständige Diskussion um inhaltliche und stilistische Fragen. Zwischen 1960 und 1980 war sie in über 70 Galerien in der Bundesrepublik ständig präsent. 1990 war eine Sonderausstellung zu ihrem 85. Geburtstag so erfolgreich, dass sie kaum Zeit hatte, sich von ihren Arbeiten zu verabschieden.
Ilse Werder interpretierte den Erfolg in einem Artikel wie folgt: "In vielen Besuchern war durch diese Bilder etwas angerührt worden, das bisher verschüttet war. (…) Die zarte, starke Frau von 85 mit der anmutigen, ja eleganten Haltung und der frischen Schaffenskraft hat die Bewunderung vieler Kunstfreunde."