Michael Kraneis
Europas ländliche Gebiete haben sich in den vergangenen Jahrzehnten rapide verändert und mit ihnen die Menschen, die aus ihnen kamen. Autobiografisch grundierte Dorfgeschichten sind in der deutschen Nachkriegsliteratur zwar nicht selten, aber sie sind längst anders zu schreiben. Mit seinem ersten Roman "Erde und Himmel" hat sich 1988 der 44jährige Michael Kraneis dem Thema auf neue Weise genähert und darin großes Talent bewiesen. Er schildert darin das Leben in der Abgeschiedenheit Niederrodenbachs kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Er erzählt von den festgefahrenen Strukturen, von Menschen, die alles Fremde argwöhnisch ablehnen und aus der Enge der eigenen Existenz nur entrinnen auf Kosten der anderen, der Dorfdeppen und Sündenböcke, "die sie sich zwischen ihren Höfen halten." Astrid Ludwig analysiert in einem Zeitungsbericht: "Die dörfliche Gemeinschaft bietet zwar dem Einzelnen Schutz, aber kein Erbarmen."
In einem Interview mit dem Hessischen Rundfunk erklärt Kraneis: "Die Dorfdeppen erfüllen eine wichtige soziale Funktion innerhalb des Dorfes, damit diejenigen, die sich für normal halten, sich weiterhin für normal halten können. Die, die sich für normal halten, das sind ja auch die Mächtigen, die vertreten das Gesetz, sie haben die Moral auf ihrer Seite, und sie geben den Ton an, und sie verteilen auch die Spielregeln und achten darauf, dass sie eingehalten werden. Und unterläuft ihnen ein Fehler, dann ist es ja auch schon ganz klar, dass dieser Fehler — so aus ihrer Sicht gesehen — nur damit zusammenhängt, dass irgendwo etwas anderes nicht funktioniert hat, und dann treten die Sündenböcke in Funktion, und es ist heute noch genauso, das ist auch nicht nur im Dorf so, sondern wenn wir uns die Politik anschauen, dann passiert das tatsächlich tagtäglich immer wieder, und es sind keine Dorfgeschichten!"
So könnte Kraneis’ Roman überall spielen, Rodenbach wird nie namentlich erwähnt, doch wer von der Bulau liest oder von der Hohen Landesschule, die der Protagonist später in der Stadt besucht, dem fällt eine geographische Zuordnung leicht.
Der Autor wird 1944 als Joachim Möller in Rückingen geboren, lebt seit dem zweiten Lebensjahr in Niederrodenbach und besucht bis zur Untertertia das Gymnasium in Hanau. Sein Vater, ein Katasterbeamter mit Nebenerwerbslandwirtschaft, will ihn zu einer gesicherten Existenz als Beamter überreden, doch der Sohn widersetzt sich und lernt Maurer.
Danach studiert er Hochbautechnik und Landschaftsarchitektur in Kassel und entscheidet sich 1980, als freier Schriftsteller zu leben. "Ich habe den roten Faden in meinem Leben immer wieder zerrissen", sagt Kraneis in einem Gespräch mit der Niedersächsischen Allgemeine und kommentiert seinen Werdegang mit dem Sponti-Spruch "Sie wollten unser Bestes, doch wir gaben es ihnen nicht!"
Es entstehen die Bände "Lichttücher", "Spurrillen" und "Im Gras der gemeinsamen Wüste", die er in Kassel im Selbstverlag herausgibt. 1986 erhält er vom Deutschen Literaturfonds ein Arbeitsstipendium für ein Jahr, in dieser Zeit schreibt er "Erde und Himmel", das in dem renommierten Hamburger Verlag Hoffman und Campe 1988 erscheint und ihm begeisterte Rezensionen einbringt.
Michael Kraneis lebt in Rodenbach.