2017 wilde kultur

2017 • Kulturinitiative

Wilde Kultur Birstein

Birstein

www.wilde-kultur-birstein.de



Wilde Kultur Birstein

Laudatio auf Sonderpreisträger „Wilde Kultur Birstein“

Die Vergabe des Kulturpreises ist in der Regel personengebunden. Der Preis wurde in den letzten Jahren zumeist an einzelne Künstler und Kulturtreibende verliehen, die persönlich für ihre künstlerischen Erzeugnisse und deren Wirkung stehen. Dabei wurde außer Acht gelassen, dass auch Gruppierungen einen wichtigen Beitrag für das kulturelle Leben im Main-Kinzig-Kreis leisten, selbst wenn sie nur mittelbar an der Entstehung von Kunstwerken und Kulturgütern beteiligt sind und sich hauptsächlich dem Vermitteln von Kultur, dem Anbieten, Veranstalten und Impulsgeben verschrieben haben. Deshalb haben die Juroren in Abstimmung mit den geldgebenden Sparkassen vor ein paar Jahren die Möglichkeit geschaffen, einen Sonderpreis zu vergeben. Dieser kann als Zeichen der Wertschätzung und Dankbarkeit gegenüber Gruppen, Vereinen und Institutionen eingesetzt werden. Mit dem Sonderpreis kann der Main-Kinzig-Kreis Gemeinschaftsleistungen honorieren, zum Beispiel den großartigen Einsatz für kulturelle Teilhabe in unserer Gesellschaft, auch wenn diese unter dem Dach eines Vereins über die Jahre auf wechselnden Schultern getragen worden sind.

Den diesjährigen Sonderpreis vergeben wir für die „herausragende Kulturvermittlung im ländlichen Raum“. Wir wissen, dass es die Kultur ebenso wenig gibt wie den ländlichen Raum. Dennoch ist unbestritten, dass die Lebensqualität in Gemeinden und Dörfern eng an lokale Kulturangebote gekoppelt ist. Die Möglichkeit, selbst künstlerisch aktiv zu werden oder auch die Gelegenheit, Kunst und Kultur als Besucher zu erleben, ist von großer Bedeutung für gesellschaftliche Teilhabe, für Identifikation und für Heimatbildung. Das kulturelle Angebot ist darüber hinaus auch abseits der Städte und Ballungsräume ein wichtiger Standortfaktor.

Dabei ist es eine Herausforderung, dass insbesondere kleinere Gemeinden nicht die Möglichkeit besitzen, hauptamtliche Strukturen zu finanzieren. Man vermisst eigenständige Kultur- und Veranstaltungsämter oder eine professionelle Kunst- und Kulturszene, die zur Entfaltung einer künstlerischen Eigendynamik führen könnte. Und dennoch ist es möglich, dass auch auf dem Land wahre kulturelle Leuchttürme entstehen. Das sieht man deutlich am Beispiel Birstein.

Und dass wertvolle und hochrangige Kulturarbeit hier, weitaus mehr als in Großstädten, von ehrenamtlichem Engagement geprägt ist, dass sie abhängig ist von den kreativen Ideen und dem „Ärmelhochkrempeln“ begeisterter Weggefährten, dass sie tief in unsere Gesellschaft wirken, dass sie Menschen begeistern und bewegen kann, dafür steht der Verein „Wilde Kultur Birstein“. Die Akteure der „Wilden Kultur Birstein“, unserem diesjährigen Sonderpreisträger, können deshalb zurecht als „Local Heroes“, als „kommunale Helden“ bezeichnet werden.

Die „Wilde Kultur“ wurde aus der Taufe gehoben, nachdem in den Jahren 2008 und 2009 die erste Produktion der Birsteiner Festspiele erfolgreich über die Bühne gebracht worden ist. Mit dem „Wilden Weib“ konnte damals die aus Birstein stammende, mittlerweile im süddeutschen Raum etablierte Theaterregisseurin Thalia Schuster ihre Idee von einem heimischen Bürgertheater umsetzen. Zwei Sommer lang lockte die Inszenierung mehr als 8000 Besucher ins Dorf. Die dramaturgische Umsetzung einer alten Birsteiner Sage, nach der sich der damalige Fürst von einem im Wald lebenden Weib um ein Stück Land hat betrügen lassen, ließ in der Region aufhorchen und galt zugleich als zukunftsweisend für Birstein. Dies machte die Gründung eines austragenden Vereins erforderlich, denn der vormals als Veranstalter eingesprungene Gesangverein sah sein Engagement aus nachvollziehbaren Gründen als einmalig an. Die „Wilde Kultur“ wurde geboren und kümmert sich seitdem federführend um die Austragung der Birsteiner Festspiele, welche mittlerweile inoffiziell auch gerne als „Birsteiner Blockbuster“ bezeichnet werden.

Es folgten in den Jahren 2011/12 „Der Raub des Seraphinenordens“ und 2016/17 „Der Wilde Grimm“. Dies sind zwei Festspielprogramme, die stilistisch und in ihrer personellen Besetzung unterschiedlich ausgerichtet sind, aber gleichermaßen ein Grundziel der Festspiele verfolgen. Sie sollen einen Teil der Geschichte Birsteins lebendig machen – durch ansprechende Musik, spannende dramaturgische Umsetzung und geschickte Verknüpfung mit aktuellen Themen. Es sind unverwechselbare, eigene Produktionen mit eigens erstellten Texten, eigens komponierter Musik, mit Darstellern aus der Region, mit einer besonderen Qualität, Aussagekraft und einer spürbar innewohnenden Begeisterung.

Die „Wilde Kultur“ mobilisiert schauspielerische, musikalische und organisatorische Kräfte aus der Heimat. Birstein ist „aus dem Häuschen“: beim „Wilden Grimm“ werden beispielsweise über 50 aktive Darsteller im Alter von 9 bis 79 Jahren auf die Bühne gebracht, über 100 Personen helfen hinter den Kulissen. Es sind Menschen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen, die gemeinsam und ehrenamtlich an einem großen Werk arbeiten. Angeleitet werden sie von einem professionell agierenden Kreativ-Team: Steffen Dargatz (Fulda) schreibt die mitreißende Geschichte, die eine Episode aus dem Leben von Ludwig Emil Grimm aufgreift. Die Komposition und Orchestrierung der Musik, die von Rock und Pop bis zu klassischer Sinfonik reicht, liegt in den Händen von Jochen Flach (Birstein). Als Bühnen- und Kostümverantwortliche beweist Gesine Pitzer (Stuttgart) ein Auge fürs Detail. Für die Auftritte des Chores zeichnet Harald Dittmeier (Gelnhausen) verantwortlich. Die künstlerische Gesamtleitung hat Britta Schäfer-Clark (Birstein) inne und Axel Brauch (Frankfurt) erntet als Regisseur zurecht donnernden Applaus. Die organisatorischen Fäden hält die aktuelle Vereinsvorsitzende Angelika Roskoni zusammen.

Es würde den Rahmen sprengen, alle in der Produktion maßgeblich Beteiligten zu benennen, angefangen von den Haupt- und Nebendarstellern, Musikern, Chorsängern bis hin zu den Bühnentechnikern, Näherinnen, Sponsoringbeauftragten, Layoutern und im Hintergrund Mitarbeitenden.

Der „Wilde Grimm“, Ludwig Emil, steht als jüngerer Bruder von Jakob und Wilhelm unter dem Druck, deren Erfolgen nacheifern zu sollen. Er findet in Birstein die ersehnte Inspiration. In ihrer großartigen Inszenierung konfrontieren die Darsteller ihre historische Figur des jungen „Malerbruders“ mit starken Themen, deren aktuelle Bezüge nicht aufgesetzt wirken, sondern spielerisch mitschwingen. Es ist eine bezaubernde Entwicklungsgeschichte, die in Märchenwelten eintaucht und zugleich biographische Aspekte vermittelt, eine Romanze vor dem Hintergrund der napoleonischen Kriege. Die Musik, von der Gruppe „Ace of Hearts“, dem engagierten Chor und den tadellosen Solisten einfühlsam interpretiert, vervollständigt das Musical zu einem Gesamtkunstwerk. Dieses Konzept geht auf: Die fünf Aufführungen im Jahr 2016 lösen – nach den großartigen Erfolgen der beiden ersten Festspiele –  abermals einen Sturm der Begeisterung aus, sind ausverkauft und ziehen viele Besucher aus der ganzen Region nach Birstein.

Doch jede Begeisterung hat auch eine Kehrseite, die den meisten ehrenamtlich engagierten Menschen – egal in welchem Bereich – bekannt sein dürfte. Projekte dieser Größenordnung können einen Verein auch an den Rand der Belastbarkeit führen, zumal bei der „Wilden Kultur“ ja nicht nur die Festspiele auf dem Programm stehen, sondern auch andere Veranstaltungen, die in den letzten Jahren organisiert und durchgeführt werden wollten: Konzerte im Vogelsberger Dom, Theaterworkshops, Kleinkunst- und Kabarettabende und vieles mehr. Ganz zu schweigen von dem opulenten Begleitprogramm zum „Wilden Grimm“.

Hinzu kam ausgerechnet in diesem Jahr, dass es der Wettergott nicht sonderlich gut meinte und er die open-Air-Festspiele ein wenig trübte. Ich selbst habe die Aufführung des „Wilden Grimms" im Regen-Cape verfolgt. Der Qualität der Aufführung tat dies keinen Abbruch. Doch musste eine geplante Vorstellung gänzlich ausfallen und insgesamt verlief der Vorverkauf ein wenig zögerlicher als im letzten Jahr.

Vielleicht kommt gerade deshalb der Kulturpreis des Main-Kinzig-Kreises – der diesjährige Sonderpreis – zur rechten Zeit. Denn gerade bei einer in unserer Gesellschaft hier und da zu beobachtenden „Gewöhnung an das Außergewöhnliche“ halte ich es für angebracht, dem Respekt und Dank für jahrelangen, unermüdlichen Einsatz Ausdruck zu verleihen.

Die Wilde Kultur Birstein setzt sich nachhaltig für ein hehres Ziel ein: für die Erweiterung des kulturellen Angebots im ländlichen Raum, im Vogelsberg, Main-Kinzig-Kreis, Birstein. Bürgermeister Gottlieb, der im Namen des Gemeindevorstandes „seinen Kulturverein“ für den Kulturpreis des Main-Kinzig-Kreises vorschlug, schrieb in seiner Begründung: „Menschen mit Kultur und Identität haben Wurzeln – ein wichtiger Gedanke, wenn es um den demographischen Wandel und die gesellschaftlichen Probleme der Ausdünnung ländlicher Gebiete geht.“ Der „Wilden Kultur“ danke ich in diesem Sinne herzlich im Namen des gesamten Main-Kinzig-Kreises für die intensive „Wurzelbehandlung“ der letzten Jahre. Ich verbinde mit der Verleihung des Sonderpreises die Hoffnung, dass der Verein immer wieder neue Themen, neue Kräfte und neue Begeisterung findet, um noch viele Jahre ein Aktivposten im Kulturleben unserer Region zu sein. Denken Sie an das, was im „Wilden Grimm“ erklang: „Die Welt braucht Verrückte! Nur so dreht sie sich weiter!“

Die Laudatio hielt Thorsten Stolz (Landrat | Mitglied der Kulturpreisjury),
16. November 2017, Main-Kinzig-Forum