2012 jazzkeller

2013 • Literatur

Christian Schulteisz

Gelnhausen 1985

www.schulteisz.de



Christian Schulteisz

Da ist einer auf dem Weg.

Von wo nach wo geht der Weg? Auf Landkarten führen Wege von hier nach dort. Ein Routenplaner heute zeigt als digitaler Zeigefinger, wo’s langgeht; er legt im Handumdrehen die kürzeste Strecke, die schnellste Verbindung fest. Und wer sich ganz dem mitfahrenden Wegweiser anvertraut, den wir so liebevoll „Navi” nennen, der macht sich kaum noch Gedanken über das Wie. Alles weiß der Navi, alles. Was er aber nicht weiß ist: Wer macht sich da auf, was ist das denn für einer? Warum will er denn nicht bleiben wo er ist? Und: Und warum wählt er gerade diese Route? Vielleicht um der Routine der Ansässigkeit zu entkommen.

Und, ganz wichtig: Was bringt er an Rüstzeug mit, an Startkapital, an Proviant? Da ist einer auf dem Weg. Christian Schulteisz, 1985 in Meerholz geboren. Das Laufen beigebracht und einen Weg gewiesen hat ihm Joachim Becke, sein Deutsch- und Englischlehrer im Gelnhäuser GGG.

Nun könnte ja der Namenspatron dieses Gymnasiums eine Art Programm sein: Grimmelshausen verließ seine Heimat, um anderswo eine zu finden abseits eingefahrener Wege. Einer davon führte ihn endlich ins Land Literatur, wo er sich dem Verfassen robuster wie galanter Romane widmete ... vor bald 400 Jahren. Schreiben. Ja: Schreiben, die Welt neu verfassen oder gar erfinden – ist sowas denn was Ordentliches oder ist das bloß Luftkutscherei? Nun wäre eine Parallelisierung, um eine aktuelle Headline herauszukitzeln à la „Auf Grimmelshausens Spuren”, schlichtweg verfehlt. Gut, beide schufen oder schaffen Literatur und der Weg von beiden in die Welt beginnt eben hier im Kinzigtal. Aber der Barockdichter ist für Christian Schulteisz kein Vorbild. Da sind ihm wahrlich andere begegnet, die ihn interessieren, so der umhergeisternde Alleswisser namens Wense. Wense – muss man den kennen? Wir werden sehen.

Gut. Nun aber doch der Reihe nach: In dem Wort Abitur steckt das lateinische ab-ire, das Weggehen. In diesem Fall auch: Weggehen von Gelnhausen. Der Weg führt Christian Schulteisz, was liegt an des Reiches Straße näher, nach Leipzig. Dort, am renommierten Deutschen Literaturinstitut der Universität, beginnt er 2006 eine künstlerische Ausbildung. Sein Bachelorstudium – mit Auslandssemester – heißt „Literarisches Schreiben”, und die Abschlussarbeit nach drei Jahren ist das Manuskript für ein Hörspiel. Es folgen weitere sechs Semester in Leipzig auf der höheren Etage der Ausbildung. Im Masterstudiengang sind dann seine Mentoren bekannte Schriftsteller, und die Trägerin des diesjährigen Deutschen Buchpreises gehört zu seinen Prüfern. Ein prägender Dozent heißt Michael Lentz. „Der Mann besitzt einen unglaublichen Wissensdurst”, sagt Christian heute, Lentz „geht mit seinen eigenen und den Werken anderer hart ins Gericht – aber konstruktiv, sehr gewissenhaft, sehr genau. Seine stilkritischen Bemerkungen und Lektüreempfehlungen, mitunter seine Frechheiten waren eine große Hilfe und Anregung.” Was kann sich ein Lehrer Besseres wünschen, als so im Gedächtnis seiner Studenten zu bleiben – dass „Frechheiten” honoriert werden? Michael Lentz ist in Frankfurt in frischer Erinnerung; er hat letzthin die Poetik-Stiftungs-Vorlesung der Universität gehalten, deren erste Dozentin übrigens Ingeborg Bachmann 1959 war, nach der nun wieder der Literaturpreis benannt ist, den Michael Lentz 2001 selbst bekam. Ich erwähne dies, weil der Weg des jungen Autors Christian Schulteisz auf diese Weise quasi in eine Netzwerk-Landkarte der deutschsprachigen Literatur hineinführt.

Nun aber wieder Leipzig, Stadt der Buchdrucker und Verleger: Wie muss man sich so ein Studium am Deutschen Literaturinstitut dort praktisch vorstellen? „Als eine Art literarisches Trainingscamp”, sagt Christian Schulteisz, als Trainingscamp, „in dem talentierte Nachwuchsathleten aufeinandertreffen, sich über Ansätze, Methoden, Probleme austauschen, sich zusammenschließen, anspornen, miteinander messen; wo sie sich in verschiedenen Disziplinen und Stilen üben können und dabei von erfahrenen Sportlern beraten werden. Neben der Schreib- und Lektürepraxis lernen sie natürlich auch einiges über die Literaturwissenschaft, die Literaturgeschichte, das Literaturgeschäft.” Und weiter: „Manche schaffen durch harte, oder sagen wir, obsessive Arbeit, durch Glück, durch Kontaktpflege den Sprung auf die Karriereleiter, landen bei einem der großen Vereine, bei einem der wichtigen Publikumsverlage – oder sie gelangen als Quereinsteiger in die Forschung, in die Vermarktung. Letztlich ist es wie mit allen Sportarten: Nur die wenigsten können allein davon leben. Und viele finden neben ihrem Beruf nicht die Zeit genug zu trainieren.”

Aha. „Obsessiv” arbeiten. Das schwingt irgendwo zwischen leidenschaftlich und besessen. Und wir lernen: Dranbleiben an den Hanteln, am Ball, auf dem Spielfeld. Und dann: Sich einen Namen machen. Sich behaupten in der Arena. Dies in einer Welt, die so gut wie keine Planstellen mehr hat, die ein Projekt an sich ist. Dazu gehören Stipendien und Literaturpreise, das Gedruckt- und Besprochen- und Zitiertwerden, die Präsenz in Medien. Und schon die Einladung zu Poetry Slams bringt Punkte, gerade dem, der vor Hunderten von Kandidaten ins Finale kommt. Christian Schulteisz hat unter anderem aber auch „Wiepersdorf” gewonnen, also das Stipendium als „Artist in Residence” in jenem Schloss in Brandenburg, das einst die Romantiker Achim und Bettina von Arnim bewohnten. Heute ist es eine der begehrten Adressen im deutschen Kulturleben. Geografisch ist der Weg nach Wiepersdorf nicht weit von Berlin aus, wo Christian heute wohnt. Und warum Berlin? Weil man nach Berlin einfach muss; alle müssen nach Berlin. Das war vor 100 Jahren schon so, zur Zeit des literarischen Expressionismus. Mehr als die Hälfte der Dichter, wie etwa Bert Brecht, kam damals aus der Provinz. Davon nähren sich ja die Metropolen.

In der Südhauptstadt München hat Christian unlängst beim Verlag C.H. Beck während eines Dreimonats-Volontariats miterlebt, was sich in der Abteilung für Belletristik abspielt, wenn es darum geht, welche Bücher mit sog. schöngeistiger Literatur ins Programm kommen, d.h. gedruckt und vertrieben werden sollen. Das letzte Wort haben dabei die Lektoren. Als Profi-Leser und Erstkritiker betreuen sie die Autoren und wissen oft nach drei Seiten, was ein Manuskript taugt. Sie sind also eine Instanz des Literaturbetriebs im Spannungsfeld zwischen künstlerischem Selbstverständnis eines Autors, Publikumserwartung und Marktchancen.

Christian Schulteisz ist jetzt 28 Jahre alt. Die Zeit seit dem Abitur – das sind Lern- und Wanderjahre voller Erfahrungen; die Stationen, das sind Heimaten auf Zeit. Navi – Sie haben es noch im Ohr, das nette Wort für den technischen Lotsen, der den mobilen Menschen begleitet. Und noch etwas uns sehr Nahes hat ebenfalls einen kurzen Namen. Ich meine den Perso. Und der Personalausweis von Christian nennt, all seine Mobilität überdauernd, als Wohnsitz noch immer die gute alte Gartenstraße in Gelnhausen. Das ist – bislang – Heimat auf Dauer.

Nun aber kurz zu Wense, Spross eines verarmten Adelsgeschlechts, dessen Leben die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts umrandet. Den historischen Privatgelehrten Wense reinszeniert Christian Schulteisz in einer Erzählung. Vorwärtsdrängende Unstetheit in einer schönen Gegend, die wenig von sich hermacht zwischen Göttingen und Kassel, die Wense jedoch erkundet wie andere das Innere Afrikas. Man weiß nicht: Sucht er irrlichternd nach dem Weg oder finden die Pfade ihn. Bewegung in einem Tempo, von dem man lesend mitgerissen wird. Geschrieben in einem Stil, der vom ersten Satz an saugt. Kein Wort zu viel, kein Heimatbiedermeier, kein gefühliger Zungenschlag, eine junge unverbrauchte Sprache, manchmal wunderbar knallig. Was lässt ein Roman von Christian Schulteisz dann erwarten? Was steht uns bevor mit einer Geschichte von einem jungen Mann, der seinen Dick-Werdegang stoppen will, durch eine obskure Ernährungsumstellung abzunehmen versucht und dabei fast wahnsinnig wird.

Ein Roman schreibt sich nicht in einem Rutsch, er braucht Atemholen und Zeit. An seinem ersten Roman arbeitet Schulteisz im Augenblick. Der Förderpreis, der ihm heute hier verliehen wird, ist als Unterstützung gedacht, diesen Roman zu vollenden, das heißt: Existenziell eine Zeit zu ermöglichen, in der ein Autor nichts anderes braucht als die Ruhe, sich wieder einmal in Thema und Text zu versenken, die Ruhe zum Schreiben.

Da ist einer auf dem Weg. Entscheidend ist es aufgebrochen zu sein. Und zur Sprache zu kommen.

Die Laudatio hielt
Prof. Dr. Heinz Schilling
Vorsitzender der Kulturpreis-Jury