2016 • Bildhauerei
Merja Herzog-Hellstén
Lohja (Finnland) 1969
Merja Herzog-Hellstén
Laudatio auf Kulturpreisträgerin Merja Herzog-Hellstén
Darf man eine Laudatio beginnen mit den Worten „Ich bin begeistert“? Mein erster Satz lautet tatsächlich so: Ich bin begeistert von der Künstlerin Merja Herzog-Hellstén, beeindruckt von dem, was sie künstlerisch macht, wie sie es macht und was sie darüber denkt und sagt.
Merja Herzog-Hellstén, 1969 geboren in einer Kleinstadt in Südfinnland namens Lohja ist dort – zwischen Helsinki und Turku – auch aufgewachsen. Mit 19 macht sie ihr Abitur. Wollte sie wirklich mal Architektin werden? Doch sie studiert Kunst an zwei amerikanischen Universitäten, erwirbt zunächst in Kalifornien den akademischen Grad eines Bachelor of Arts im Fach „Freie Kunst“. Und 1993 dann in Arizona – ebenfalls mit Prädikatsexamen – den Master in Freier Kunst und Bildhauerei – Keramischer Bildhauerei. Im Old Main Museum zu Flagstaff hat sie zum Studienabschluss mit 23 ihre erste Ausstellung.
Heute lebt Merja Herzog-Hellstén in Deutschland, seit 16 Jahren in Hanau, in einem Viertel mit Straßennamen, die in unseren Landkreis weisen. Sie hat die finnische und die deutsche Staatsangehörigkeit und ist – man kann sagen – mit ihrer Kunst und ihrem pädagogischen Wirken weltweit bekannt, immer mal wieder in unserer Nähe aktiv. Ob sie nun – wie zuletzt jetzt – in Dakar im Senegal ausstellt oder – wie kurz davor in der Maschinenhalle des Museums Großauheim – ihre Expositionen gelten längst als spektakulär. Warum? Vielleicht trifft gerade auf Merja Herzog-Hellstén zu, dass Kunst das Unerwartete ist.
Etwa auch ihr künstlerischer Werdegang. Von der harten, oft brüchigen Keramik, geht ihr Weg zu ganz anderem Material heute, beispielsweise hierher:
Wir haben ja recht unterschiedliche – eingeübte – Umgangsweisen mit bildender Kunst. Wir betrachten – als bodenverankerte Lebewesen meist auf der Suche nach sicheren Horizonten – ein Bild an der Wand. Eine Plastik indes, ein Denkmal etwa, kann man umrunden. Und dann gibt es – noch einen Schritt weiter – die betretbare Skulptur, durch die man gehen kann – Installation genannt. Die Installation ist eine besondere Sphäre sowohl des künstlerischen Machens als auch des Wahrnehmens. Die Installation, die gelegentlich auch die Königsklasse der Kunst heißt. Merja Herzog-Hellstén nennt die Installation ihr zentrales künstlerisches Medium.
Dieses Medium – als Instrument der Kommunikation – besteht aus Raum, diversem Material, einem Arrangement visueller Formen. Als „Raum-Komponistin“ wirkt die Künstlerin, als würde sie eine Performance vorbereiten, als stünde eine „Uraufführung“ bevor, der allerdings eines noch fehlt: Das Publikum. „Eine visuelle Realisation gänzlich ohne menschliche Beteiligung oder deren Berücksichtigung betrachte ich als unvollendet“, charakterisiert Merja Herzog-Hellstén ihr Schaffen, dem natürlich die Vorstellung von einem nicht nur passiv flanierenden 10-Sekunden-Betrachter zugrundeliegt.
Das ist Teil ihrer gestalterischen Idee: Der Raum als Installation soll möglichst viele multiperspektivische und multisensorische Annäherungen ermöglichen. Neben der Dreidimensionalität (Länge, Breite, Höhe) soll sich in der Installation zusätzlich durch Besucherdynamik im Raum die zeitliche Dimension öffnen. Dies wäre ein eminenter zwischenmenschlicher Aspekt, dass Menschen in und am Rande einer Installation darüber ins Gespräch kommen. Wenn Kunstkritiker gelegentlich das Wort „Inszenierung“ verwenden, dann bleibt das Wahrnehmen und Erleben einer Installation kein isolierter privater Akt.
Dennoch, dieses Erleben „nur für sich“ halte ich für einen zunächst wesentlichen Punkt in unserer Welt, die von einer riesigen Industrie vorgefertigter Gefühle durchdrungen ist – von Emotionen, die „man“ zu haben hat. Achten Sie einmal beim Buch, das Sie gerade lesen, welch ein Repertoire von „Berührtsein“ da per Klappentext aufgerufen wird, ähnlich bei der Kinoreklame.
In meinem Interview mit der Preisträgerin ging es auch darum, wer ihr die Anstöße in Richtung Kunst gab.
Gut, sie nennt Cy Twombly, Anselm Kiefer, Eva Hesse, doch sie hat ein Vorbild nicht bewusst gesucht. Sie ist keine Konzeptkünstlerin sondern ordnet sich als konzept-orientiert ein; sie illustriert keine Ideen.
Ihr Weg erfolgte selbstständig, sagt Merja Herzog-Hellstén, die Hauptquelle war Natur, Draußensein (in Finnland immer naheliegend), im Fokus die Natur, visuelle Zusammenhänge: Bäume, Formen, Kurven, Zeiten: Wann ist mir dieser Wald am liebsten? Dann die Lieblingsorte. Ganz wichtig, notiere ich: Schnee. Schnee sei eine unglaubliche Quelle wie auch Wasser. Ganz fördernd: Instrumentalmusik. Sehr motivierend: Sport: Wie weit reicht Energie? Und die allerwichtigste Quelle: Neugier, Neugier, Neugier. Wahrnehmen – lerne ich – Wahrnehmen heißt: darauf achten, was um mich herum passiert, heißt vergleichen, in Beziehung setzen, ein Gespür für die feinen Unterschiede entwickeln. Letztlich: die Umwelt innerhalb eines – vom Künstler gedachten – Kontexts zu „lesen“.
Ist es nicht das, was Merja Herzog-Hellsténs Installationen dem Betrachter als „multisensorische“ Anreize anbieten?
Was die Künstlerin anstrebt ist die Schaffung einer – wie sie sagt – „immateriellen Atmosphäre“ mit einer „unendlich großen Menge“ an Kombinationsmöglichkeiten und einem vielfältigen Instrumentarium, wie etwa mit Licht feinste Wahrnehmungsnuancen zu bewirken.
„Die Wege, wie ich andere Menschen damit erreiche, das kann ich nicht unbedingt ahnen“, bemerkt sie und blickt auf den Schaffensprozess: „Ich manipuliere nicht, sondern versuche, möglichst viele Aspekte reinzupacken. So etwa überlege ich: Soll man beim Betrachten und Durchschreiten Geräusche hören? Soll man einen Rhythmus spüren? Wenn ja: langsam? schnell? Wenn ich das angespürt habe, wenn das dann „da“ ist, dass der eine oder andere das dann schnappt“.
Was sie jedoch keinesfalls will: Gebrauchsanweisungen geben für ihre Werke, und sie will keine Assoziationen planen. „Assoziationen sind wie Schablonen“, sagt sie, „das sind Impulse von außen, sind Aufforderungen: Ja, so ist es, so soll es sein. Aber der Mensch hat vielleicht gar keine Chance zu fragen: Wie ist das denn für mich? Da bin ich vorsichtig, Assoziationen zu wollen, auch im Unterricht. Die Gebrauchsanweisungen von außen sind unglücklich für die Kreativität“, fügt sie hinzu.
Gemeint ist hier die Kreativität, die eigene Assoziationsfähigkeit des Betrachters. Wenn man sich dem Werk genähert, es an sich herangelassen hat, es in sich aufgenommen, adoptiert und es sich vielleicht anverwandelt hat – das heißt: es sich zu eigen gemacht hat, wenn die Wahrnehmung andocken konnte an den eigenen Erfahrungs-, Wahrnehmungs- und inneren Bildervorrat des Betrachters, ja sogar in mein Gefühlsrepertoire, dann ist möglicherweise der Punkt erreicht, dass Merja Herzog-Hellstén sagen könnte, Ja, jetzt ist es nicht mehr ganz unvollendet.
Nicht zum Nachteil ist ganz bestimmt die Materialkunde. Zu wissen, dass in letzter Zeit die Künstlerin mit Kunststoffen arbeitet, im Fall der meterlangen Schlauchverknotungen (die mich an den Psychoanalytiker Ronald D. Laing erinnern) mit Polyethylen oder die AEHETTRA-Serie mit Acryl-Glas, das plan oder thermisch verformt seine Gestalt gewinnt.
Das Wort Plastik bekommt hier seinen Doppelsinn als Werkstoff und als Werk: Das Basismaterial Kunststoff wird zum Kunst-Stoff. Und noch ein Denk-Bogen bietet sich an: Die thermische Verformung mittels Wärme oder Hitze findet sich im künstlerischen Leben unserer Preisträgerin zweimal – einmal ganz am Anfang, am Brennofen für keramische Bildhauerei und der Frage, ob der Brand gelingt. Und nun wieder bei den großflächigen Formen, die so fragmenthaft anmuten.
Die Skulpturen und Formen haben es in sich, und man dechiffriert als Betrachter nicht alles. Das Wort Unterricht ist schon gefallen. Es ist eine Schule des Machens und des Sehens, in die Merja Herzog-Hellstén einlädt, eine Schule der Kreativität, gesehen als ein generelles Vermögen und als Energie unserer Kultur.
„Kreativität kann man nicht aufbrauchen“, so beginnt ein schöner Satz der amerikanischen Schriftstellerin Maya Angelou, „Kreativität kann man nicht aufbrauchen. Je mehr man sich ihrer bedient, desto mehr hat man.“ Und ganz ähnlich hat Merja Herzog-Hellstén in unserem Gespräch neulich ein Ausrufezeichen gesetzt, als sie sagte: „Kreativität als das generelle Vermögen des Menschen muss man wecken, die Menschen auch ermuntern, es weiter zu entwickeln.“ Sie hat eine reiche Erfahrung als Lehrbeauftragte am Frankfurter Städel, Erfahrung im Wecken von Kreativität – ein Studienangebot, das es dort leider nicht mehr gibt. Heute realisiert sie ein beachtliches freies Kursprogramm mit dem Namen Gestaltungslabor.
Die Laudatio hielt Prof. Dr. Heinz Schilling (Vorsitzender der Kulturpreisjury)
02. November 2016, Main-Kinzig-Kreis