Page 88 - MKK Kulturpreisträger 25 Jahre Katalog
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1995 Ilse Werder Kassel 1925Kultur ist für Ilse Werder immer all das, was das ganze menschliche Leben ausmacht: Der Umgang mit- einander, das Verhältnis zur Natur und zum sozialen Umfeld – und nie- mals nur eine Feierabendbeschäfti- gung für gehobene Kreise. „Wer die kleine agile Person in ihren Bewegungs- strukturen und Motivationen verstehen will,“ schreibt Helmut Pomplun 1995 in einem Zeitungsbeitrag, „sollte das von ihren existenziellen Erfahrungen her sehen. Kindheit und Jugend in Nazi- Deutschland unter ideologischer Dürre, das Grauen des Krieges bis zum Ent- setzen im Bombenhagel.“Zwischen Trümmern, Toten, Not und Elend hat sie damals begon- nen, nach den Ursachen zu fragen und nach dem zu suchen, was der Mensch wirklich braucht und welche Verantwortung der Einzelne hat.Als sie 1947 in Kassel bei den „Hes- sischen Nachrichten“ anfängt zu arbeiten, hat sie den Nachholbedarf gespürt, den die Menschen nach Kunst, Literatur, Theater und Politik hatten. „Da haben wir uns reingestürzt unter den kläglichsten Verhältnissen.“ Politisiert von den Erfahrungenin NS-Zeit und Krieg, tritt sie in die SPD ein und engagiert sich dort besonders für die Schwerpunkte Soziales, Friedens- und Frauen- politik. Sie heiratet zweimal und schenkt vier Kindern das Leben.Als sie ihren zweiten Mann verlässt, ist sie 40 Jahre alt, ihre Kinder 4-,5-, 6- und 16jährig und sie „fiel in ein tiefes kaltes Wasser. Aber durch diese Trennung habe ich auch Kraft ent-wickelt, die ich mir selbst nicht zuge- traut hätte. Ich habe entdeckt, was alles in mir steckt.“1967 beginnt sie als Korrespon- dentin für die Frankfurter Rund- schau aus Hanau und Umgebung zu berichten. Privatwohnung und Redaktion sind unter einem Dach, so kann sie während der Arbeitszeit nachschauen, was die Kinder ma- chen. Das meiste schreibt sie nachts, morgens holt der Bote die Manu- skripte ab, später gibt es einen Fern- schreiber...„Als sie 1986 mit 61 Jahren in Rente ging, war sie nicht nur weitum bekannt als Mrs. Rundschau und kämpferische Frauenrechtlerin. Sie hatte sich auch einen Namen gemacht in der Friedenspolitik und in der Kultur- politik,“ resümiert Helmut Pomplun. Sie ist aktiv in der AsF, ist Mitbe- gründerin des Hanauer Frauenhau- ses und des Hanauer Kulturvereins, sie hat die seit 500 Jahren bestehen- den Verbindungen zum Hanauer Land im Elsass wiederbelebt und die Brüder Grimm aus dem Dornrös- chenschlaf geweckt. Zunächst aus Zorn über die Ignoranz der Grimm- Geburtsstadt, später aus Liebe und Bewunderung arrangiert sie eine vielbeachtete Ausstellung über die drei Brüder Grimm und publiziert unermüdlich über sie.Sie hat 1989 die Ausstellung „100 Jahre Frauenleben rund um das Kinzigtal 1888 – 1988“ organi- siert und 1990 das Archiv „Frauen-leben im Main-Kinzig-Kreis“ gegrün- det. Dessen Archivbestand basiert im wesentlichen auf 30.000 Einzel- titeln, die Ilse Werder in Jahrzehn- ten zusammengetragen hat, er wurde mittlerweile um Bildmaterial, Ton- träger und Fachliteratur ergänzt. Sie veröffentlicht unter anderem: 1993 „Frauenleben in Schlüchtern“, 1994 „Frauen machen sich auf den Weg“, 1995 „Künste, Kämpfe, Kompeten- zen“ und 1998 „Frauen in den Gewerkschaften 1945 – 1997“.In ihrem (Un-)Ruhestand über- nimmt sie anfangs die Redaktion der Zeitschrift „Hanau kulturell“ und baut eine verfallene Hofreite in Katholisch-Willenroth wieder auf. Hier entsteht der Kulturtreff „Wer- ders alte Scheune“, einem Ondit zufolge ein Anziehungspunkt „für Schöngeister mit künstlerischen Ambitionen und naturverbundener Lebensweise“. Sie initiiert in der Sommersaison Bauern-, Kräuter- und Kunsthandwerkermärkte, bietet Kabarett- und Theaterveranstaltun- gen, Konzerte und Lesungen an und startet von hier zu Lehrwanderungen über Heilkräuter und zu Pilzfüh- rungen. Anlässlich ihres 70. Geburts- tages erhält Ilse Werder den Kultur- preis für ihre umfassenden kulturellen Aktivitäten. Als sie im Herbst 2000 75 Jahre alt wird, ehrt die Stadt Hanau sie mit der Bürgerplakette dafür, dass sie sich in ihrem beruf- lichen und ehrenamtlichen Engage- ment „besonders auf dem Feld der Frauenförderung und der Frauenpolitik verdient gemacht hat.“8825 JAHRE KULTURPREIS DES MAIN-KINZIG-KREISES


































































































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