Page 188 - Kulturpreisträger_Künstlerprotraits
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2013 Christian Schulteisz Gelnhausen · 1985 · FörderpreisChristian SchulteiszSTROMERWenn der Weg das Ziel ist, ist der Um- weg das längere Ziel, sagt jemand und lacht als einziger, stößt mit seinem Wan- derstab auf den Boden, der ihm unter- wegs zur Verteidigung dienen soll, gegen widerspenstiges Buschwerk, erdachte Feinde, vielleicht auch gegen echte ge- fährlich Tiere. Aber damit ist nicht zu rechnen. Sein Stab ist ein Stiel, den er im Baumarkt gekauft hat. Ein auseinander- genommener Besen wäre zu Hause auf- gefallen.Der Jemand ist nicht allein, er hat seinen besten Freund an der Seite, kein Hund, sondern auch ein Mensch. Zwei Stromer. Der Freund besitzt keinen Stiel, dafür irgendwas anderes, sicherlich in seinem Rucksack!Noch ehe die beiden den Wald erreichen, durch den sie sich gleich schlagen wer- den, findet der Freund einen Ast, brichtdie abstehenden Zweige ab, hat fortan auch einen Stock, viel besser sogar als mein gekaufter.Jetzt dreschen die beiden – wir! – drauf los, alles Gesträuch muss dran glauben, größtenteils Brennesseln. Sie hinterlas- sen eine mächtige Schneise, die selbst vom Weltall aus zu sehen ist, vor allem jedoch beim Blick über die Schulter. Mit- tendrin dann (von innen wirkt der Wald viel lichter, enttäuschend) ein Bachlauf. Der Freund, mein bester, zieht eine Säge aus dem Rucksack, fällt ritschratsch einen Baum, der als Brückensteg über den Bachlauf kracht.Eigentlich nicht nötig, wir könnten ja drüberspringen.Tun wir nun auch.Und da liegt etwas im Laub. Ein Fuchs. Wir sind begeistert, mein Freund stößt ihn mit seinem langen Stab, noch ehe ich es mit meinem wagen will – dieser Kerl hat mir wirklich alles voraus.Der Rest sind Sommerbilder. Ein Baum, auf dem wir sitzen. Ein Geheimgang,den wir entdecken, am Fluss entlang. Hasen im hohen Gras, riesig! Ein Mais- feld, das wir durchstürmen. Und schließ- lich in der Dämmerung, weil über den Fluss kein Weg führt, im viel zu großen Bogen nach Hause.Später, ein paar Monate später oder ein Jahr, im Winter: Glatteis. Sogar unter der Bahnbrücke, wo wir auf der Betonschräge bäuchlings runterrutschen. Nur leider schmerzt dann mein Handballen, und als ich den Jackenärmel hochziehe, ist mein Handteller voll Blut, das zwischen den Fingern hindurch in den Schnee rinnt. Uns bleibt nur der Rückzug.Mein bester Freund hält mich am Arm, gibt Acht, dass ich nicht stürze, aber das Glatteis zieht uns beiden die Beine weg, und beim Aufprall immer wieder genau auf die Wunde, noch zwei, drei Mal, eine einzige Blutpumpe!Die Narbe ist heute winzig, keiner sieht sie außer mir – und meinem besten Freund von damals, würde ich sie ihm zeigen.Christian Schulteisz · Emdener Straße 47 b; VH 2. OG · 10551 Berlin · Telefon 0177- 9242063 · www.schulteisz.deKULTURPREISTRÄGER DES MAIN-KINZIG-KREISES


































































































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