Page 16 - Kulturpreisträger_Künstlerprotraits

1984 Peter Henning Hanau 1959LANDSCHAFT OHNE MICHHanau, das sind vor allem Erinnerungen, weit zurückliegend und doch so umriss- scharf wie der Blick durch das Okular eines Mikroskops auf einen wiedergefundenen, vor langer Zeit vom eigenen Körper abge- sprungenen Hautpartikel: Fußballbilder- tauschen auf dem sonnigen Schulhof der Wilhelm-Geibel-Schule, das lichterloh brennende Gloria-Lichtspiel-Theater am Westbahnhof in einer Nacht des Jahres 1967 und all die mit hochrotem Kopf beendeten Fussballspiele auf der holprigen Wiese unterhalb des Kesselstädter Wasser- werks. Später dann: Albert Camus und der Traum vom eigenen Schreiben.Vor fünfundzwanzig Jahren habe ich mich von Hanau losgesagt, habe mich abgewandt und gedacht, nie von dieserKrankheit genesen zu können, nie loszu- kommen von den Erinnerungen an das Desaster Schule, die Fluchten und ersten schweren Verluste. Irgendwann aber hatte ich plötzlich das stimulierende Gefühl, den Virus abgetötet, Abstand gewonnen zu haben. Später, wenn ich mit dem Zug aus Zürich kommend daran vorbei und weiter in ferne Städte fuhr, gewann ich manchmal den Eindruck, an einem falschen, rückseitigen Hanau vorbei zu fahren und drückte kindlich meine Nase gegen die Abteilfensterscheibe. Was ich sah, war eine Landschaft ohne mich.Anschließend war es lange still zwischen Hanau und mir, die Stadt wandelte lang- sam ihr Erscheinungsbild so, wie sich auch bei mir erste graue Haare einschlichen.Schließlich wurde ich wider Erwarten doch noch zum Schriftsteller – und Hanau plötzlich wieder zu einem Thema. Inzwi- schen träume ich mich öfter als mir lieb sein kann, dorthin zurück: auf den Schul- hof, ins „Old Inn“ am Freiheitsplatz, wo immerzu „Heart of Gold“ von Neil Young lief, in die Wilhelmsbader Wälder, wo ich einen Nagelfleck, einen Buchenspinner und meinen ersten Lindenschwärmer fing. Hanau – das ist heute Fremdheit und Nähe zugleich, die Möglichkeit einer Annähe- rung, ohne dabei die Freiheit zu verlieren.Peter Henning16WWW.KULTURPREIS.NET