2011 kippenberg

2011 • Architektonische Skulpturen

Prof. Claus Bury

Gelnhausen 1946

www.clausbury.de



Prof. Claus Bury

Stadt Land Fluss. Was fehlt? Stadt Land Fluß Kunst. Richtig: Stadt Land Kunst Fluss.
Ich stehe am Fluss. Auf der anderen Seite rauscht die B 43. Auf dem Main gleitet lautlos langsam das Schiff “Senator” aus Würzburg. Talfahrt Richtung Frankfurt. Oder Rotterdam. Ich drehe mich um. Von den sechs großen alten Graupappeln taumeln die Blätter ins Gras. Ich blicke über die Wiese zur Stadt, zum Schloss. Zum Fahrradweg.
Still, klein, bescheiden die Skulptur. Ich gehe näher. Die Skulptur wächst. Dann ist diese neunstufige Figur – oder sollte ich Gestalt sagen – dreimal so groß wie ich selbst. Die nach Westen weisende Kante – ist ihre Krümmung nicht ähnlich der Buglinie dieses Schiffs eben? Ich umrunde die Skulptur, die aus zwei abgetreppten Flanken besteht. Gehe ein Stück Richtung Stadt, blicke zurück: Werden da zwei Hände gleich beten, die Mittelfinger berühren sich oben schon. Halten die Spannung. Die Handflächen bewahren durchschaubar Distanz.

Ich gehe darauf zu, Schritt für Schritt verändert sich das Bild. Der Schiffsbug wird nun wieder größer, die Lärchenholzbalken gewinnen eigene Gestalt. Diese Balken reißen an den Stirnseiten, und wenn du genau hinsiehst, dann sind das ganz feine Risse, nicht einer sondern 15, denn die Balken bestehen eigentlich aus 15 Brettern, die sind horizontal schichtverleimt. Und jedes Brett reißt, ganz fein vertikal, für sich allein. Richtung Erdmittelpunkt. Aber alle halten zusammen. Ein eigenartiges Muster ist da entstanden. Erdschwer und himmelleicht zugleich diese Skulptur am Philippsruher Schloß zu Hanau.

So viele Gedanken strahlt diese Skulptur von Claus Bury aus. Sie machen den Platz zwischen Stadt und Fluß anders, sie definieren – und ich glaube, das ist ein Kern der künstlerischen Philosophie von Bury – sie definieren einen Raum. Ja, die Gedanken im eigenen Kopf machen das. Und wer bringt sie dazu? Claus Bury: Komm näher, lass dich darauf ein, was du siehst, gib ihm Raum, nimm eine Auszeit von der Wahrnehmungsroutine des Alltags, steig ab vom Fahrrad.

Ob die Schiffer diese Skulptur namens “Engpass” sehen? Ob sie die Skulptur “Stapellauf” am Würzburger Mainufer beachten, wo die “Senator” ja herkommt? Ob der Kapitän sagt: Das da ist die “Schiffsbrücke Seligenstadt”, wenn sie gerade da vorbeifahren? Ob die nun wirklich sehr beziehungsreiche Holzkonstruktion mit dem Namen “Gestrandet” bei Köln-Sürth beredet wird oder kurz darauf “Fibonaccis Tempel” am Deutzer Rheinufer, das – durchaus, wenn du aus Fibonaccis geeignetstem Fenster über den Strom schaust – Gegenstückchen zum Kölner Dom? Erdschwer himmelwärts beides.

Flußfahrt vorbei an Bury-Skulpturen. Von denen habe ich jetzt nur fünf genannt. Das Werkverzeichnis unseres Preisträgers nennt einige Dutzend weiterer Positionen – frühe Projekte von kurzer Dauer, sogar eine in die Luft gesprengte Arbeit in Offenbach, dann aber doch viele beständige architektonische Skulpturen, die meisten aus Holz, zunehmend aber Stahlkonstruktionen, die größte davon misst 28 x 81 x 14 Meter.

Der diese Skulpturen schafft ist ja eigentlich Goldschmied. Er hat eine Lehre gemacht und insgesamt zehn Jahre als Goldschmied und Schmuckdesigner gearbeitet. Wie kommt so jemand zu Ausmaßen von 28 auf 81 auf 14 Meter?

Claus Bury, geboren 1946 in Meerholz, durchlief von 1962 bis 65 die Ausbildung zum Goldschmied an der Staatlichen Zeichenakademie Hanau, es folgte das Studium an der Kunst-und Werkschule Pforzheim bis 1969. Da ist Bury 23 Jahre alt, und es beginnt für ihn eine Zeit des Orientierens und Fragens: Woher komme ich – was kann ich – wo will ich hin – wer bin ich? Es werden die wohl wichtigsten Jahre im Leben.

Ein Aspekt seiner Biografie bis dahin ist die Familiengeschichte, sie hat seit Generationen die Signatur: Schmuck. Jean Jacques Bury gilt als der Bury-Urvater, er kam mit anderen Goldschmieden, Graveuren, Ziseleuren und Edelsteinfassern Mitte des 18. Jahrhunderts von Straßburg nach Hanau. 1772 wird er der zweite Lehrer an der neuen Zeichenakademie. Sein ältester Sohn Friedrich, ein Zeitgenosse Goethes, ist Maler. Und in Rom – so die neuere Forschung – ist er an einer Vorstudie des berühmten Tischbein-Gemäldes “Goethe in der Campagna” beteiligt. Heute die 7. Bury-Generation: Noch die Schwester Gisela unseres Preisträgers leitet ein Schmuckhandelsunternehmen.

Nun aber wieder zu Claus Bury ins Jahr 1969. Ab dann ist er mehrmals zu längeren Studienaufenthalten in “Swinging London”, lebt dort und und erlebt live die Stars der britischen Popart. 1973 kommt eine erste Einladung nach Amerika. “Wenn man aus einer kleinen Provinzstadt wie Hanau dann plötzlich in New York landet”, sagt Bury, “dann ist das eine Offenbarung sondergleichen.”

Es warten weitere Offenbarungen: 1975 folgt er der Einladung nach Israel an die Bezalel Academy of Arts and Design in Jerusalem, 1979 lädt das Goethe-Institut nach Australien ein. Und diese beiden Reisen scheinen den nunmehr 30jährigen umzukrempeln. In der judäischen Wüste und auf dem Sinai dirigiert er rund 40 Studenten wie ein Choreograf, sich in der Landschaft zu bewegen. “Und das”, sagt er, “das war für mich eine solche Erfahrung was es bedeutet, in eine andere Dimension einsteigen zu können, aber den skulpturalen Begriff auch für mich neu zu definieren, was es heisst, wenn ich jetzt plötzlich skulptural werde, also mich bewege mit irgendwelchen simplen Gegenständen – ner Stange, oder mit dicken Seilen etwas verankere in dieser kargen Wüstenlandschaft. Also: es ging um ganz simple Prozesse. Und das war für mich eigentlich der Beginn des Loslösens von meiner Schmuckwelt. Das war noch 75 – da war ich ja mittendrin [in der Schmuckwelt]. Das hat dann noch vier Jahre gedauert, bis ich in der Lage war zu sagen: Schluss jetzt! Aber dann radikal.”
Während die Israel-Erfahrung eher noch Gedankenstriche waren, wurde Australien zum Ausrufezeichen. Eingeladen als junger experimentierfreudiger Schmuckkünstler aus Europa kommt Claus Bury von beiden Reisen zurück und weiß, was er künftig nicht mehr sein will. Als Goldschmied sieht er sich begrenzt in seiner künstlerischen Ausformulierung. Aber was statt dessen?

Zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag. Und für Claus Bury sind die neuen Ufer in Amerika. Noch im selben Jahr 1979 passiert seine übersiedelung in die USA, wo er vier Jahre bleibt. In Providence auf Rhode Island richtet er eine Werkstatt ein. Mit einer Kappsäge entstehen die Prototypen dessen, wofür wir Bury heute hauptsächlich kennen, etwa das “Bridge Project” für den Madison Square Park in Brooklyn; diese Brücke aus Fichtenholz und Eisen überspannt bereits elfeinhalb Meter. Beim Arbeiten jedoch mutet der vorwärtsdrängende Kopf der Hand zu viel zu. Befund: Kapaltunnel-Syndrom.
“Danach hab ich dann mit Schreinern, Zimmerleuten oder Schlossern und anderen Experten an meinen Projekten gearbeitet. Also ausführen lassen”, erinnert sich Bury, “nur noch die Entwicklung selbst gemacht, die Modelle selbst gebaut. Das mach ich immer noch und das macht mir nach wie vor sehr viel Freude. Braucht weniger Kraft, aber: es bedarf einer präzisen Bearbeitung, was ich ja, wenn es so auf Kleinteiligkeit hinläuft, durch meinen goldschmiedischen Beruf immer noch intus habe. Sowas verlernt man ja nicht, man braucht halt irgendwann ne Brille. Ich kann immer noch kleine, präzise Dinge hinfriemeln -aus Holz, nicht aus Metall. Und das macht... unheimlich viel Spaß.”

Wir haben uns also von Broschen aus Gold mit Acrylglas, wovon junge Goldschmiede heute begeistert sind, von Ringen im Zentimeterbereich in andere Raumdimensionen hineinzudenken.

Von der Vitrine auf die Bühne. Auf die Bühne des öffentlichen Raums. Wir haben uns vorzustellen, eigentlich zu erinnern an eine architektonische Skulptur aus Holz in den Abmessungen 10 auf 20 auf 8 Meter. Sie wurde 12 Jahre alt, die Skulptur, die keine ambitionierte Landmarke, wohl aber ein Merkzeichen einer kleinen Stadt in Hessen mit gut 20.000 Einwohnern war. Brautpaare haben sich davor fotografieren lassen – ein starkes Symbol, dieses “Wir sitzen alle in einem Boot”. Und man kann sagen, Claus Burys Skulptur gehört zum kollektiven Gedächtnis von Gelnhausen. Ein Denkmal in Köpfen.

Das “Boot” gibt es nicht mehr. Wem der Zugang glückt kann sich im jetzt dort stehenden Nachfolgeobjekt von Claus Bury Gedanken wachsen lassen über die Vergänglichkeit. Das Boot war nicht mehr zu retten, heißt es, trotz des Bemühens vieler. Mir kommt der “Engpass” auf den Hanauer Mainwiesen in den Sinn, nach 14 Jahren auch angenagt vom Zahn der Zeit, man hat ihn aber rechtzeitig zum Teil wieder neu aufgebaut.
Beeindruckend finde ich den Entstehungsprozess der Buryschen Skulpturen; das geht nicht hopplahopp. Es beginnt mit einer Anfrage: Könnten Sie vielleicht ... hier bei uns? Dann macht sich der Künstler auf den Weg, fährt auch mehrfach hin, inspiziert den Ort, nimmt ihn in sich auf, will ein Gefühl entwickeln: Welches Material passt dort hin, welche Größenordnung im Verhältnis zum umgebenden Raum? Was läßt sich im gedachten Kostenrahmen überhaupt einsetzen? Entscheidende Fragen sind das. Bury zieht sich dann ins Atelier zurück, verarbeitet die Eindrücke, betrachtet die mitgebrachten Fotos, stellt sich vor, wie in vier, fünf Jahren die Skulptur mal aussehen könnte.

Nun aber zunächst einmal: Entwerfen, Plan fertigen, Abstimmen mit Statikern und Firmen, die die Konstruktion errichten. Folgt dann alles, was da gemacht wird, wirklich seiner Idee? Das letzte Wort auf der Baustelle hat dann Claus Bury.
Es gibt wunderschöne Bücher über den Bildhauer, der ja etwas anderes macht, als zu hauen, Steine zu behauen – Bury baut auf. Es gibt kluge Interviews, Statements, Texte. Beispielsweise der Katalog zum Gelnhäuser “Boot” ; ein ästhetischer Genuss auch das neueste Buch mit dem Titel “Maßstabssprünge”. Burys Arbeiten – sie irritieren die einen und inspirieren die anderen – werden natürlich auch in Sprache zu greifen oder zu begreifen versucht. Man begegnet dann Begriffen wie Vorstellbarkeit, Machbarkeit, Öffentlichkeit, Begehbarkeit und denkt sich Besehbarkeit und Beredbarkeit dazu.
Die Fotos leisten etwas über die Dokumentation hinaus: Sie entwickeln eine eigene Sinnebene, erweitern Imagination und Verstehen.

Es gibt Burys Kunst also in diversen Realitäten: Idee, Entwurf, Modell, die fertige Skulptur in der Stadt, auf dem Land, am Fluss. Eindringlicher noch als einst unter freiem Himmel kann man im Band über das Boot gerade über die Fotos begreifen, was die Skulptur an der Kinzig mit der Barbarossaburg verbindet, etwa, wie das Boot die Form eines romanischen Fensterbogens hat – aber auf dem Rücken liegend. Das sind Entdeckungen! Claus Bury stellt sich nicht neben seine Werke und erklärt sie; das überläßt er anderen, und er wundert sich gelegentlich, was da herausgelesen und hineingeheimnißt wird.

1997 erfolgt die Berufung Burys als Architekturprofessor an die Universität Wuppertal, sechs Jahren später übernimmt er an der renommierten Nürnberger Akademie der Bildenden Künste die Professur für Bildhauerei. Emeritiert ist er seit kurzem. Seine Nürnberger Studenten führte er zu einem Austausch trilateral mit Hochschulen in Japan und China. Derlei globale universitäre Kontakte fehlen ihm jetzt. Um Nachfolger von Professor Bury zu werden haben sich hundertneun Bewerber gemeldet.

Es sind noch andere Formen der Anerkennung zu nennen für diesen in Deutschland sehr bekannten und anerkannten, in der ganzen Welt für seine ästhetische Originalität und handwerkliche Perfektion geschätzen Künstler: Da sind einmal die 32 Einzelausstellungen an Museen über die Welt verteilt. Und da sind die Stipendien, Projektförderungen und -preise, die Claus Bury von insgesamt sieben Donatoren erhielt. Es will etwas heißen, wenn – um nur drei Beispiele zu nennen – der Kulturkreises im Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) einen jungen Künstler fördert; wenn er den begehrten Lehmbruckpreis für Skulptur in Duisburg erhält und wenn die Hessische Kulturstiftung den dann durchaus schon arrivierten Bildhauer mit einer bedeutenden Zuwendung honoriert.

Bury war, auch dies eine Anerkennung, Stadtbildhauer in Hanau und plant gerade einen Stadtplan für dort, aus Granit: unverrottbar, begehbar und besitzbar: man wird dann auf der historischen Stadtmauer in klein ausruhen können. Das erinnert an Burys Brückenskulptur am Ebro: Warum denn nicht auf den Spuren einer längst verschwundenen Brücke eine neue aus Stahl errichten? Das geschah dann vor drei Jahren im Rahmen der Weltausstellung in Zaragoza.

Claus Bury lebt in Frankfurt – und zwar an zwei Stellen. Einmal dort, wo – sagen viele – die Stadt am urbansten ist, im Nordend. Und einmal dort, wo die Stadt vielleicht am handwerklichsten ist, das ist in Fechenheim, wo man nicht weiß, ob es schon Enkheim ist. Mitten in einer Ansiedlung kreativer Kleinbetriebe: Schreinerei, Captain Cook Export-Import, Roth Gebäudetechnik, Pitbull Anziehsachen, Filmstyle pictures, ein rundes Dutzend Gewerbe, so in dieser Art. Und: Das Atelier Claus Bury.

Der erste Eindruck beim Besuch: große aufgeräumte Räume, große Ordnung, große Planschränke, Fotos an den Wänden, diverse Modelle Buryscher Schöpfungen, eine Hochhauslandschaft aus Holz, die nicht so bleiben muß, wie sie im Augenblick ist. Nein, ein Haus – zum darinnen wohnen – hat Bury noch nie wirklich gebaut. Aber gefragt worden ist er schon...

Bury arbeitet mehr und mehr mit Stahl, was eine lange Lebensdauer haben wird – aber dennoch gepflegt sein will. Wie etwa der “Bitterfelder Bogen” auf einem Hügel über der Stadt, die einst Inbegriff der DDR-Chemieindustrie war. Diese – einzig wirkliche – Landmarke im Schaffen Burys ist meilenweit zu sehen. Die Maße? 28 x 81 x 14 Meter. Nach anfänglichem Widerstand der Stadt – Was soll das? Brauchen wir das? Das soll Kunst sein? -, also nach den Nutzanwendungsfragen für und gegen Kunst – heute wirbt die Stadt Bitterfeld mit dem Slogan “Wir haben den Bogen raus!”

Sehr verehrter, lieber Herr Bury, bevor sie jetzt gleich zur Preisüberreichung nach vorn kommen – zum Schluss noch ein bißchen Heimatkunde: Ihr Atelier ist drei Kilometer von Maintal-Bischofsheim entfernt. Sie wissen ja: Hier können Sie immer locker die Grenze zum Main-Kinzig-Kreis überschreiten, der Sie heute mit seinem Kulturpreis ehren will. Aber eigentlich sind Sie bereits auf Frankfurter Boden umgeben von Heimat: Sie brauchen nur aus dem Atelier zu gehen und sind in der Meerholzer, Wächtersbacher, Birsteiner, Steinauer, Orber, Langenselbolder, Salmünsterer und wieder zurück in der Meerholzer Straße. Selbst einen Elmer Weg haben Sie in der Nähe.

Die Laudatio hielt
Prof. Dr. Heinz Schilling